Die Abgrenzung von Rufbereitschaft und Bereitschaft erweist sich in der Praxis manchmal als schwierig, da auf Grund der vom EuGH entwickelten Kriterien verschiedene Faktoren für die Bewertung herangezogen werden müssen. Dazu gehören der Grad der EInschränkung, der Ort, die Häufigkeit der Inanspruchnahme etc.
Wie das aber im eigenen häuslichen Umfeld zu bewerten ist, dazu gab es bislang keine Rechtsprechung. Mit Urteil des LAG Niedersachsen (Urt. v. 06.12.2023, Az.: 2 Sa 142/23) hat sich dies nun geändert. Im Leitsatz des Urteils heisst es:
"Mit dem Mindestlohn zu vergütende Arbeit ist nicht nur die Vollarbeit, sondern auch die Bereitschaft. Dem gegenüber sind Zeiten der Rufbereitschaft als solche (anders die Inanspruchnahme während der Rufbereitschaft) keine vergütungspflichtige Arbeitszeit. Wenn der Arbeitsplatz die Wohnung des Arbeitnehmers einschließt oder mit ihr identisch ist, reicht der bloße Umstand, dass der Arbeitnehmer während der vorgegebenen Bereitschaftszeit an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, um dem Arbeitgeber erforderlichenfalls zur Verfügung stehen zu können, nicht aus, um diesen Zeitraum als Arbeitszeit im Sinne der RL 2003/88/EG einzustufen. In diesem Fall bedeutet das Verbot für den Arbeitnehmer, seinen Arbeitsplatz zu verlassen, nämlich nicht zwangsläufig, dass er sich außerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhalten muss. Außerdem ist ein solches Verbot für sich genommen weniger geeignet, diesem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu nehmen, während der Bereitschaftszeit über die Zeit, in der er nicht in Anspruch genommen wird, frei zu verfügen (vgl. EuGH, 9. September 2003 C 151/02 Rn. 65; EuGH, 9. März 2021 C 344/19 Rn. 43). Eine Bereitschaftszeit, die von Montag bis Donnerstag den Zeitraum von 16.15 Uhr bis 7.00 Uhr des darauffolgenden Tages umfasst, betrifft einen Zeitraum, in dem ein Arbeitnehmer sich regelmäßig innerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhält und er infolge der Ortsbeschränkung kaum Einschränkungen bezüglich seines Freizeitverhaltens unterliegt. Da das von dem Arbeitnehmer im Streitfall zu betreuende Telefon auf den zuständigen Meister umsprang, sofern er den Anruf nicht bis zum 4. Klingelzeichen an genommen hatte, unterlag er keiner relevanten Einschränkung bezüglich seines Aufenthaltsortes während der eingeteilten Dienstzeit. Wenn ein Arbeitnehmer in einem Bereitschaftszeitraum vom Januar bis Mai 2022 lediglich 20 Anrufe entgegennimmt, stellt sich die Bereitschaftszeit auch unter Berücksichtigung der Kriterien Häufigkeit und Dauer des Einsatzes als Rufbereitschaft dar."
Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass es in der Entscheidung um sog. "innewohende Fachkräfte" ging. Dem war aber nicht so. Es handelte sich hier um eine Stelle, die im Rahmen des Entstörungsmanagements für Gasnetzbetreiber und Wasserversorgungsunternehmen dafür zu sorgen hatte, dass eigehende (Not-) Anrufe sofort bearbeitet werden konnten.
Trotz allem ist die Entscheidung u.E. für die Jugendhilfe relevant, da gerade bei "Innewohnenden" ebenfalls eine Tätigkeit im eigenen (!) häuslichen Umfeld vorliegt. Auch ansonsten ist die Entscheidung lesenswert, da sie noch einmal klar die Kriterien der Rechtsprechung benennt, die zur Diefferenzierung zwischen Rufbereitschaft und Bereitschaft erforderlich sind.
14.06.2024 MdC